Digitalisierung und Regionalität als Perspektiven für Geisteswissenschaftler – Interview mit Dr. Mareike Menne

Mit der Digitalisierung hat sich der Arbeitsmarkt verändert und neue Perspektiven für Geisteswissenschaftler geebnet. Und auch die Regionalität von Unternehmen ist ein wichtiger Aspekt bei der Suche nach dem passenden Job. Dr. Mareike Menne ist auch Geisteswissenschaftlerin, studierte Geschichte, Kulturwissenschaftliche Anthropologie und Medienwissenschaften und hat im Interview mit uns über ihre Erfahrungen gesprochen. In ihrem Blog Brotgelehrte informiert sie Geisteswissenschaftler rund um die Themen Beruf und Arbeitsmarkt. Sie arbeitet als Autorin, Beraterin und Coach.

Welche neuen Möglichkeiten bieten sich auf dem Arbeitsmarkt für Geisteswissenschaftler durch die Digitalisierung?

Mareike Menne: Es ist zu beobachten und wird auch in den Debatten immer wieder thematisiert, dass Kreativität und Kritik trotz der zunehmenden Technisierung menschliche Aufgaben bleiben. Hier liegen traditionell Stärken der Geisteswissenschaftler, die sie nun gut ins Spiel bringen müssten. Natürlich sind die individuellen Profile von Geisteswissenschaftler*innen sehr unterschiedlich. Die Frage, welche Chancen und Gestaltungsmöglichkeiten man in diesen digitalen Transformationsprozessen erkennt, hängt ganz wesentlich mit der Fachkombination, des inhaltlichen und methodischen Angebots des Hochschulstandorts, mit persönlichen Interessen und Voraussetzungen zusammen. Bestimmt aber ist es nicht sinnvoll, in einer Arbeitsmarktkonsumhaltung zu verharren und darauf zu warten, dass sich Möglichkeiten bieten.

Glauben Sie, dass Geisteswissenschaftler sich schwertun, diese Möglichkeiten für sich zu entdecken?

Mareike Menne: Bei vielen Studierenden und Dozierenden herrscht das Mindset vor, dass Geisteswissenschaftler die armen Socken am Arbeitsmarkt sind, die trotz Vollbeschäftigung keiner will und auf die das Prekariat wartet. Aus so einer Haltung heraus ist es für Geisteswissenschaftler natürlich sehr schwer, weil sie sich selbst eher als das passive Element wahrnehmen. Es ist aber ziemlich gut zu beobachten, dass etwa auch in  Start-Up-Strukturen Geisteswissenschaftler vertreten sind: Sie schaffen Plattformen für Lernangebote, Sprachtools, Medien und Publikationen, Projektarbeit, wissenschaftliche Dienstleistungen, Storytelling, und zwar ganz wesentlich in interdisziplinären Teams. Geisteswissenschaftler steuern Ideen, Didaktik, Strategie und Inhalte bei.

Jetzt haben Sie schon viel darüber gesprochen, welche Bereiche für Geisteswissenschaftler interessant sind in der Digitalisierung. Wenn jetzt Studierende auf Sie zukommen und nach konkreten Berufsbezeichnungen fragen, was antworten Sie dann?

Mareike Menne: Viele Geisteswissenschaftler sehnen sich nach eindeutigen Stellenbeschreibungen und einem klaren Tätigkeitsprofil auch, um sicher zu sein, dass die eigene Bewerbung aussichtsreich ist. Doch die klassischen Berufsbezeichnungen oder auch Statusgruppen, wie wir sie etwa im öffentlichen Dienst kennen, finden wir in einer dynamischen und agilen Wirtschaftsumgebung nicht mehr vor. Insofern gehört das Studium des Vokabulars, das bei Stellenausschreibungen verwendet wird, zu den Aufgaben im Bewerbungsprozess, um einschätzen zu können, ob die ausgeschriebene Stelle passt oder ob sich z.B. unter „Projektmanager“ in zwei Ausschreibungen möglicherweise ganz unterschiedliche Anforderungsprofile befinden. Gleichzeitig können wir mit Blick auf die akademische Seite auch feststellen, dass die Zuordnung von neuen, interdisziplinären Masterprogrammen zu konkreten Berufen schwieriger ist als die Zuordnung von klassischen Fächern zu klassischen Jobs. Zu unseren Kernkompetenzen gehören Definition und Deutung – der Arbeitsmarkt ist eben auch ein Feld sprachlicher Praxis und Dynamik, das analysiert werden kann.

Zu Ihrer Frage, auf welche „digitalen“ Jobs das Profil von Geisteswissenschaftlern perfekt passt: Ich halte das im Kontext der Digitalisierung für eine ebenso problematische Erwartungshaltung wie sie es schon zuvor gewesen ist. Es gibt keine perfekte Passung. Wir sprechen über sehr variantenreiche und komplexe Systeme, wenn unsere Themen „Arbeitsmarkt“, „Digitalisierung“ und „Geisteswissenschaften“ sind.

Konkret bedeutet das etwa: Berufe, die hinsichtlich ihres organisatorischen oder sozialen Anforderungsprofils an geisteswissenschaftliche Studiengänge anschließen, erhalten digitale Komponenten, etwa das Lehramt, der Archivdienst, das Verlagswesen, der Journalismus. Neben digitalen Tools und Tätigkeiten in den Kernaufgaben ist in all diesen Bereichen auch zu beobachten, dass sich der Anteil von digitalen Rahmenhandlungen  erhöht, etwa Kommunikation. Insofern ist hier digitale Kompetenz bereits jetzt ein Teil des Anforderungsprofils. Weiterhin gibt es Berufe, die quasi während eines einzigen Studienzyklus entstehen, so wie etwa die Social Media Manager, und für die wir gegenwärtig gar nicht sicher sagen können, ob es sich womöglich nur um eine Lebensabschnittstätigkeit handelt, weil neue technische Lösungen diese Berufe verändern oder auch ersetzen. Solche „plötzlich“ entstehenden professionellen Aufgaben werden auch in Zukunft auf uns zukommen.

Durch die Digitalisierung kommt es zudem zu einem Automatisierungsprozess, der sich auf einige unserer typischen Berufsfelder auswirken wird. So ist absehbar, dass der ohnehin schon enge Markt von Autorschaft und Übersetzung mittels Automatisierung zusätzlich unter Druck gerät und Bewertungskompetenz ein zentrales Kriterium menschlicher Prozessanteile wird. In diesem Rahmen lohnt es sich, neue Konzepte von Arbeit zu entwickeln und zu erproben. Das ist eine Tätigkeit auf der Metaebene von Digitalisierung, die sich an die sozialwissenschaftlich ausgerichteten Geisteswissenschaftler richtet – ebenso wie agile didaktische Skills rund um Medienkompetenz.

Wie bereitet man sich als Geisteswissenschaftler auf neue digitale Berufsfelder und den Berufseinstieg vor?

 Mareike Menne: Bei der Frage zur Vorbereitung sind vor allem folgende Dinge wichtig:

  1. Entscheidungsfähigkeit und Verantwortung für eine eigene professionelle Identität, um Kriterien zu haben, die bei der Zuordnung zu Branchen, Berufen, Tätigkeitsbereichen und Arbeitgebern oder Gründungskontexten helfen.
  2. Die Reflektion und das Sichtbarmachen der Fachkompetenzen statt Rückzug in die Beliebigkeit als Generalisten.
  3. Arbeitsmarktbeobachtung als begleitendes Studienprojekt einschließlich des Lernens über digitale Recruitingverfahren.
  4. Die Entwicklung der Fähigkeit, mit und mittels Interfaces – also Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine – zu kommunizieren.
  5. Eine gut geübte und ausgeprägte Bewertungsfähigkeit von Quellen.
  6. Denken können in maschinengerechten Abläufen, weil sich nicht nur Berufe und Arbeitsmarkt verändern, sondern auch die Arbeitsprozesse, weil Maschinen beteiligt sind – und gleichzeitig die Kritik daran als Teil der eigenen Rolle zu pflegen.

Glauben Sie, dass es Arbeitgebern schwerfällt, die Kompetenzen vom Geisteswissenschaftler zu erkennen?

Mareike Menne: Ja, weil es dem Geisteswissenschaftler selbst schwerfällt. Es ist nicht die Rolle von Arbeitgebern, unsere Kompetenzen für uns zu definieren. Es wäre hilfreich, wenn die Fachverbände und die akademischen Fachvertreter dies deutlicher vermittelten, und, wenn sie die Kompetenzorientierung kritisieren, auch für die inhaltlichen und methodischen Qualitäten unserer Absolventen Argumentationsangebote schüfen.  Dazu gehört zum Beispiel auch das Gespräch darüber, was einen Germanisten eigentlich von einer Philosophin unterscheidet, statt sich auf die Generalistenrolle zurückzuziehen. Das entwertet ja auch unsere Disziplinen.

Glauben Sie, dass die Regionalität eine Perspektive für Geisteswissenschaftler ist und wenn ja, warum?

Mareike Menne: Das ist vielleicht zunächst ein ungewohnter Gedanke, weil der akademische Arbeitsmarkt natürlich nicht zuerst regional funktioniert. Aber erstens herrscht bei vielen Absolventinnen ein Wunsch nach regionaler Stabilität vor, zweitens sind auch kleine und mittlere Unternehmen, die ja die Mehrheit der Arbeitgeber jenseits des öffentlichen Dienstes stellen, zu großen Teilen regional orientiert. Vielen Studierenden ist die regionale Dimension aus zwei Gründen nicht bewusst: erstens lernen sie von Dozierenden, die in einem überregionalen Arbeitssystem stecken und nicht regionalwirtschaftlich vernetzt sind, und zweitens kennen sie häufig das Wirtschaftsprofil ihrer Region nicht. Damit fehlt ein konkreter Bezugspunkt, um gezielt suchen zu können und sichtbar zu werden. Machen Sie einfach mal einen Spaziergang durch Ihre Innenstadt und schauen Sie, welche Unternehmen in den ersten Etagen, über den Läden, residieren. Es werden sicherlich einige darunter sein, die einen inhaltlichen oder sozialen Bezug zum Studium aufweisen, vielleicht auch Gründungen von Alumni: Verlage, Nachhilfeinstitute, Beratungsunternehmen, Galerien, PR-Büros.

Heißt das im Umkehrschluss, dass Studierende in der Region bleiben sollten, wo sie studieren?

Mareike Menne: Nein, das ist damit keinesfalls gemeint. Es sollte einfach der Blick für affine Unternehmen in der Region und deren Netzwerke geschärft werden. Stellen Sie sich vor, Sie ziehen mit Ihrer Partnerin in eine andere Region um, in die Ihr bislang mühsam erarbeitetes professionelles Netzwerk nicht mehr reicht. Wenn Sie gelernt haben, auf dem regionalen Arbeitsmarkt unabhängig von Ausschreibungen Anknüpfungspunkte zu erkennen, wird es auch leichter fallen, eventuelle Beschäftigungsmöglichkeiten zu identifizieren.

Es wird auch deutlich, dass es sehr unterschiedliche regionale Wirtschaftsprofile gibt, die für Geisteswissenschaftler Schwerpunkte, Vor- und Nachteile bieten. Es ist auch für jeweilige Karrierestrategie wichtig zu wissen, ob man im Zentrum steht oder in der Provinz oder welche Grauschattierung der jeweilige Standort hat, ob man dort eine von tausend oder eine von zweien, ob man Teil einer  Außenseiter-, Nischenbesetzer- oder Meinungsführergruppe ist und ob ein gewachsener geisteswissenschaftlicher Arbeitsmarkt besteht.

Was sind konkret die Vorteile einer regionalen Orientierung für Geisteswissenschaftler?

Mareike Menne: Der Blick in die Region lässt z.B. die für uns relevante Kultur- und Kreativwirtschaft konkret werden: Unternehmensnamen, Ansprechpartner, Netzwerke, Recruitingwege. Diese Konkretisierung hilft, Mythen zu enttarnen, Entscheidungen treffen und überprüfen zu können und damit handlungsfähig zu werden. Den regionalen Markt zu ignorieren bedeutet nicht nur, auf Chancen zu verzichten, sondern kann auch unglücklich machen, wenn etwa die fachliche Anpassung leichter fallen würde als ein Umzug und ggf. auch die räumliche Trennung von Familie und Freunden.